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5. Warum ist Tolkiens Werk, besonders Der Herr der Ringe, so schwer in andere Sprachen übersetzbar?
Weil sein Interesse für, sein Geschick mit und seine Liebe zu Sprachen auf jeder Ebene und tatsächlich fast in jedem Wort des Herren der Ringe durchsickern, wodurch Effekte erzielt werden, die sich nur sehr schwer (wenn überhaupt) in anderen Sprachen reproduzieren lassen. In der Antwort auf die vorangegangene Frage habe ich beschrieben, wie Namen aus der Gemeinsamen Sprache in Englische übertragen wurden und welche prinzipiellen Schwierigkeiten sich bei einer Übersetzung ins Deutsche ergeben. Um Übersetzern eine Hilfestellung zu geben, schrieb Tolkien einen "Guide to the Names in The Lord of the Rings", mit Hinweisen, welche Namen nach welchen Gesichtspunkten übersetzt werden sollen und welche besser nicht. Allein soweit zu kommen, ist bereits eine beachtliche Geschicklichkeitsübung für einen Übersetzer, aber das ist nur der Anfang. Wie bereits im letzten Abschnitt gezeigt, ist es praktisch unmöglich, alle linguistischen Feinheiten des Werkes bei einer Übersetzung zu bewahren.

Abgesehen von diesen ziemlich speziellen Problemen bei einer Übersetzung ist dieses Werk allein durch seinen Stil sehr schwierig. Die Sprache ist teilweise archaisch und gehoben, ist aber dabei nicht ein genaues Abbild des Angelsächsischen oder der mittelalterlichen Ausdrucksweise, sondern eher ein literarischer Kompromiß aus Originalgetreue und Verständlichkeit für einen Leser des 20. Jahrhunderts. In diesem Sinn handelt es sich um einen absichtlich konstruierten, aber künstlichen literarischen Archaismus (Briefe, 297 [#171]).

Außerdem gibt es Unterschiede in der Aussprache des Westron bei verschiedenen Charakteren mit verschiedener Bildungsstufe; diese Unterschiede wurden dann im Englischen wiedergegeben (z.B. beim Rat von Elrond, Der Herr der Ringe Kap. II/2, S. 250 ff [I-292 ff]; siehe auch The Road to Middle-earth, 90-93). Selbst die einzelnen Charaktere variieren ihren Sprechstil zu verschiedenen Zeiten (Anhang F, S. 1153ff [Anh.122ff])

Es wurde sogar versucht, den Unterschied zwischen vertraulicher und höflicher Anrede wiederzugeben. Im Englischen wird heute so gut wie immer die Form you benützt, die jedoch ursprünglich eine Höflichkeitsform war; das vertrauliche thou ist heute sehr archaisch, ist aber englischen Sprechern als literarische Form bekannt (etwa so, wie Deutschsprachige die alte Höflichkeitsform Ihr noch erkennen, aber nicht mehr benützen).

Die Übersetzerin stand somit vor dem Dilemma, daß zwar sowohl das Deutsche als auch das Englische eine vertrauliche und eine höfliche Form aufweisen, daß aber im Englischen die vertrauliche seit Shakespeare nicht mehr in Gebrauch ist, während im Deutschen die höfliche veraltet klingt. Außerdem drückt englisches thou nicht so sehr wie deutsches du Herablassung aus, sondern eher Zuneigung und emotionale Nähe. Ein schönes Beispiel für eine nicht ganz gelungene Übersetzung ist der Abschied Aragons von Éowyn im Hargtal (Der Herr der Ringe, Kap. V/2, S. 793 [III-61])

Ein letztes Problem bei Übersetzungen stellen die Gedichte dar, die oft wesentlich komplizierter sind, als es auf den ersten Blick scheint, und die in vielen Fällen fast unübersetzbar sind. Ein extremer Fall ist Bilbos Lied von Earendil (Der Herr der Ringe, Kap. II/1, S. 243 [I-284]); T.A. Shippey identifizierte in der Form dieses Gedichtes fünf verschiedene Metren (The Road to Middle-earth, 145-146). Viele von Tolkiens früheren Gedichten (er schrieb unter anderem zwei lange balladen-artige Gedichte über Túrin Turambar und Lúthien Tinuviel) sind meines Wissens nach noch nie übersetzt worden.

Quellen:
Der Herr der Ringe Anhang F; Kap. II/2 S. 250 (I-292); The Complete Guide to Middle-earth; Briefe 297 (#171) (archaischer Stil), 328ff (#190) (holländische Übersetzung), 344ff (#204) (schwedische Übersetzung); The Road to Middle-earth 90-93 (4, "The Council of Elrond"), 145-146 (6, "The Elvish Tradition"), A Tolkien Compass.
Autor:
WDBL
Übersetzer:
Gernot Katzer (leichte Ergänzungen über die deutsche Übersetzung)

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