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Inwieweit wird die Vorstellung vermittelt, daß Tolkien der "Übersetzer" des Herren der Ringe war?
Tolkien bemühte sich tatsächlich sehr um diesen Eindruck. Seine Idee war, daß die Hobbits natürlich kein Englisch oder Deutsch sprachen (denn die Geschichte hatte sich ja weit in der Vergangenheit abgespielt... siehe auch Frage FAQ, Tolkien, 6); vielmehr sprachen sie ihre eigene Sprache, die als Westron oder auch Gemeinsame Sprache bezeichnet wird. Tolkien "übersetzte" nun diese Sprache ins Englische, weswegen auch alle Ortsnamen aus dem Westron ins Englische (bzw. ins Deutsche, siehe Frage FAQ, Tolkien, 5) übertragen wurde. Damit erzielte er folgenden Effekt: Westron-Ortsnamen (die den Hobbits vertraut klangen, da die Wortbestandteile ihrer täglichen Sprache entnommen waren) wurden durch englische bzw. deutsche Namen widergegeben, die dem Leser aus dem selben Grund bekannt und vertraut erscheinen (z.B. "Bruchtal"). Namen aus anderen Sprachen, zumeist Sindarin, wurden aber nicht übertragen, sodaß sie uns (gleich wie den Hobbits) als fremd erkenntlich bleiben (z.B. "Imladris", der Sindarin-Name von Bruchtal). Da die ganze Geschichte aus der Perspektive der Hobbits erzählt wird, war es Tolkiens Ziel, uns die linguistische Position der Hobbits teilen zu lassen (in solchen Dingen war Tolkien ungewöhnlich feinfühlig).

Bei der Darstellung der "linguistischen Landschaft" von Mittelerde ging Tolkien noch viel weiter. Das beste Beispiel dafür ist sein "Ersatz" des Angelsächsischen für das Rohirrische. Der Grund dafür ist, daß der Dialekt der Hobbits weitläufig mit dem Rohirrischen verwandt war; als die Hobbits Rohirrisch hörten, erkannten sie deshalb viele einzelne Wörter, ohne aber die Sprache selbst zu verstehen (etwa so, wie es einem Menschen mit deutscher Muttersprache in Holland oder Skandinavien ergeht). (Der Herr der Ringe, Kap. V/3, S. 799 [III-69]). Damit versuchte Tolkien, die Wahrnehmung der Hobbits beim Hören der rohirrischen Sprache beim (englischsprachigen) Leser zu kopieren, indem er als Übersetzung des Rohirrischen eine Sprache wählte, die zu Englisch eine ähnliche Beziehung hat wie Rohirrisch zum Hobbit-Dialekt des Westron.

In der deutschen Übersetzung fällt dieser Effekt fast völlig weg; Éowyn, Théoden oder Gríma sind für einen Menschen deutscher Muttersprache fremd und bedeutungslos, ja, üblicherweise wird er nicht einmal wissen, wie man sie ausspricht. In keiner Weise wird er sie so "heimelig" empfinden, wie ein Engländer das Angelsächsische oder ein Hobbit das Rohirrische. Lediglich bei Dernhelm ist kann die Bedeutung dieses Wortes leicht erraten werden ("die sich unter einem Helm versteckt"). Eine Übersetzung all dieser Namen ins Althochdeutsche wäre eine offensichtliche Lösung gewesen, allerdings um den Preis, daß kein Leser der Übersetzung sich mit einem Leser des englischen Originals hätte unterhalten können, ohne neue Namen zu lernen!

Es gibt noch weitere Nuancen in dem ausgeklügelten und fein durchdachten Netz von linguistischen Beziehungen, das Tolkien in seinen Schriften knüpfte (wie er erklärte, um die "linguistische Landkarte" von Mittelerde auf eine Art und Weise zu reproduzieren, die von einem englischen Sprecher leicht verinnerlicht werden konnte). All diese Feinheiten sind natürlich eine besondere Herausforderung für die Übersetzung des Herren der Ringe in eine andere Sprache, und konnten im Fall der deutschen Übersetzung nur teilweise berücksichtigt werden:

  1. Ortsnamen in der Gemeinsamen Sprache, die ein besonders altes Flair tragen sollten, wurden aus veralterten englischen Wortbestandteilen zusammengesetzt. Im Englischen läßt sich dieser Effekt relativ leicht erreichen, da viele ur-germanische Wurzeln im Spätmittelalter durch normannische (altfranzösische) Entlehnungen verdrängt wurden.

    So verwendet Tolkien als Übersetzung von Tol Brandir das Wort tindrock, nach dem obsoleten gemanischen Wortelement tinn- (Zinne), obwohl im heutigen Englisch nur noch das französische Lehnwort merlon verwendet wird. Im Deutschen geht diese Subtilität verloren, das Wort Zinnenfels erscheint nicht als besonders archaisch.

  2. Einige der Starren (die später in Bockland und im Bruch siedelten) lebten einiger Zeit in Dunland (in der Aufzählung der Jahre die Einträge für 1150 und 1630 [Drittes Zeitalter], Der Herr der Ringe, Anhang B, S. 1101 [Anh. 74f]). Auch die Männer aus Bree kamen ursprünglich aus dieser Gegend (Anhang F, siehe besonders die Abschnitte "Von Menschen" und "Von Hobbits").
    Da die erhaltenen Spuren der älteren Sprachen der Starren und der Menschen in Bree den erhaltenen keltischen Elementen in England ähneln, ..."

    Der Herr der Ringe, Anhang F, S. 1156 [Anh.125]

    ... wählte Tolkien für Ortsnamen in der Umgebung von Bree keltische Ausdrücke (Bree, Archet, Chetwald); die Elemente chet (Wald) und bree (Hügel) sind vielen Engländern aus Ortsnamen geläufig. Aus denselben Gründen wählte Tolkien für die Namen der Hobbits aus dem Bockland Ausdrücke aus dem Wallisischen, einer keltischen Sprache, die in Teilen Englands heute nach gesprochen wird (Madoc, Berilac; Meriadoc ist eine keltisch klingende Konstruktion aus engl. merry, siehe Anhang F).

    In der deutschen Sprache hat das Keltische so gut wie keine Spuren hinterlassen, obwohl Süddeutschland und Österreich tausend Jahre lang von Kelten besiedelt waren. Die Übersetzerin des Herren der Ringe ließ die keltischen Namen alle unübersetzt stehen, womit leider ein subtiler Effekt des Originals verlorenging: Für einen deutschsprachigen Leser hat chet keine besondere Bedeutung, es wird als genauso fremd wie ein Sindarin-Wort empfunden. Auch die bockländischen Namen mit ihren wallisischen Endungen erwecken nicht die Assoziation mit einer ländlichen und in ihren Sitten eigenständigen Region.

  3. Bei einigen der älteren Familien der Falbhäute waren ehrwürdig klingende Namen aus den Legenden der Vergangenheit sehr populär (ein Beispiel von Hobbit-Humor). Tolkien "repräsentierte" diese Namen durch Namen fränkischer oder gothischer Herkunft (Isengrim, Rudigar, Fredegar, Peregrin).

    Da das Deutsche zum Gothischen eine ähnliche Beziehung hat wie das Englische, konnten diese Namen von der Übersetzerin unverändert übernommen werden.

All dieses Gesichtspunkte werden im Anhang F des Herren der Ringe ausführlich diskutiert.
Quellen:
Der Herr der Ringe, Anhang F; The Complete Guide to Middle-earth, Briefe, 232 (#144), 495 (#297), The Road to Middle-earth, 88-89 (4, "Stars, shadows, cellar-doors: patterns of language and of history").
Autor:
WDBL
Übersetzer:
Gernot Katzer (Ergänzungen bezüglich der deutsche Übersetzung)

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