Soll der Nordwesten von Mittelerde, wo die Handlung spielt, tatsächlich
Europa sein?
Ja, aber mit Einschränkungen. Es gibt keinen Zweifel, daß Tolkien tatsächlich das nordwestliche Europa im Kopf hatte, als er Landschaft, Wetter und Flora von Mittelerde beschrieb. Das war teilweise so, weil Nordwesteuropa seine Heimat und ihm daher am besten bekannt war, und teilweise wegen seiner Liebe zu nordischen Überlieferungen. Wie er selbst sagte: Dem Nordwesten Europas, wo ich (und die meisten meiner Vorfahren) gelebt habe, gehört meine Zuneigung, wie sie der Heimat eines Menschen gehören sollte. Ich liebe seine Atmosphäre, und über seine Geschichten und Sprachen weiß ich mehr als über die anderer Gegenden.Daher erscheint die Umgebung von Mittelerde Bewohnern dieses Teiles von Europa vertraut (siehe auch die Auszüge aus dem zweiten Brief in der Antwort auf Frage FAQ, Tolkien, 6). Allerdings entsprechen die Geographien einander nicht genau. Der Grund dafür liegt weniger in einer bewußten Entscheidung Tolkiens, sondern ist eher ein Nebeneffekt in der Entstehungsgeschichte seiner Schöpfung: Die Idee, Mittelerde und Nordwesteuropa als weitgehend identisch anzusehen, kam ihm erst, als der Inhalt des Herren der Ringe zu weit entwickelt war und die Landkarte ohne großzügiges Umschreiben der Geschichte nicht mehr stark verändert werden konnte: Ich kann nur sagen, daß es, wenn dies "historisch" wäre, schwierig sein dürfte, die Länder und Ereignisse (oder "Kulturen") mit den uns bekannten archäologischen oder geologischen Befunden zu vereinbaren, die den näheren oder ferneren Teil dessen, was heute Europa heißt, betreffen; allerdings wird vom Auenland ausdrücklich gesagt, daß es in dieser Region gelegen habe (Der Herr der Ringe, Prolog, S. 18 [I-16]). Ich hätte alles auf eine größere Wahrscheinlichkeit hin zusammensetzen können, hätte sich die Geschichte nicht schon zu weit entwickelt gehabt, als sich die Frage überhaupt stellte. Ich bezweifle, ob damit viel gewonnen gewesen wäre...Die Bemerkung, daß "nicht viel damit gewonnen wäre" ist charakteristisch und bezeichnend für Tolkiens Vorgangsweise, die sich auf der "lokalen Ebene" um Ähnlichkeit und Vertrautheit bemühte, aber die fehlende "globale" Identität eher ignorierte. Damit ist gemeint, daß zwar die einzelnen Szenen in verschiedenen, durchaus wiedererkennbaren Teilen Europas spielen, daß aber deren relativen Lagen und Entfernungen nicht mit der wirklichen Geographie Europas übereinstimmen. Tolkien erwähnt diese Schwierigkeit im Prolog des Herren der Ringe: "Jene Tage, das Dritte Zeitalter von Mittelerde, sind nun lange vergangen, und die Gestalt der Länder hat sich verändert..." (S. 18 [I-16]). Daher bleibt es jedem Leser überlassen, wie wichtig ihm die geographische Übereinstimmung ist, und wo zwischen den beiden Aussagen Mittelerde ist Nordwesteuropa und Mittelerde hätte auch Nordwesteuropa sein können er seinen Standpunkt wählt. Tolkien hätte vielleicht gesagt Mittelerde ist in meiner Vorstellung Nordwesteuropa. Versuche, die Landkarte Mittelerdes in das Bild des Eurasiatischen Kontinents mit Gewalt einzufügen (wie in Tolkien - die illustrierte Enzyklopädie von David Day), sind jedenfalls mit Vorsicht zu genießen. Ein Brief enthält weitere Hinweise über die Geographie Mittelerdes, aber er trägt wenig dazu bei, die obige Frage zu entscheiden, da ihm hier Nordwesteuropa nur als Vergleich, nicht aber zur Gleichsetzung diente: Die Handlung der Geschichte spielt im Nordwesten von "Mittelerde", was in den Breitengraden etwa den Küstengebieten Europas und den Nordufern des Mittelmeers entspräche.... Wenn Hobbingen und Bruchtal (wie beabsichtigt) etwa auf der Breite von Oxford liegen, dann läge Minas Tirith, 600 Meinen südlich, etwa auf der Breite von Florenz. Die Mündung des Anduin und die alte Stadt Pelargir befinden sich etwa auf der Breite des alten Troja.
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