Was wurde aus den Entfrauen?
Hierauf wurde in der Geschichte selbst keine definitive Antwort gegeben. Allerdings gab Tolkien in zwei Briefen Hinweise darüber, und obwohl er so vorsichtig war, seine Kommentare mit "Ich glaube" und "Ich weiß nicht genau" zu versehen, so ist deren Ton doch alles in allem recht pessimistisch. Er scheint seine Meinung mit der Zeit auch nicht geändert zu haben. Die folgenden Zeilen wurden 1954, noch vor der Veröffentlichung des Herren der Ringe, geschrieben: Was aus ihnen geworden ist, wird in diesem Buch nicht aufgelöst ... Ich denke, daß die Entfrauen tatsächlich für immer verschwunden waren; sie sind mitsamt ihren Gärten im Krieg des Letzten Bündnisses (Zweites Zeitalter, 3429-3441) vernichtet worden, als Sauron eine Politik der verbrannten Erde verfolgte und ihr Land niederbrannte, gegen den Vormarsch der Verbündeten, den Anduin abwärts (Der Herr der Ringe, Kap. III/4, S. 484 [I-88] bezieht sich darauf). Überlebt haben sie nur in der an die Menschen (und Hobbits) weitergegebene "Agrikultur". Manche könnten natürlich auch nach Osten geflüchtet oder auch versklavt worden sein: Sogar in solchen Erzählingen müssen Tyrannen für ihre Soldaten und Metallarbeiter einen ökonomischen und landwirtschaftlichen Hintergrund haben. Sollten welche auf diese Weise überlebt haben, wären sie freilich den Ents sehr weit entfremdet, und jede Wiederannäherung wäre schwierig - es sei denn, die Bekanntschaft mit der industrialisierten und militarisierten Landwirtschaft hätte sie ein wenig anarchischer werden lassen. Hoffentlich war es so. Ich weiß nicht.Der obigige Hinweis of eine "Politik der verbrannten Erde" durch Sauron macht die Zerstörung des Landes der Entfrauen zu einer viel schwerwiegenderen Angelegenheit als es aus der Geschichte selbst ersichtlichlich ist; dort hatte Baumbart nur gesagt: "denn der Krieg war darüber hingegangen" (Der Herr der Ringe, III/4, 484 [II-88]). Die folgenden Zeilen stammen aus 1972, im letzten Lebensjahr Tolkiens: Zu den Entfrauen: Ich weiß es nicht. ... Aber ich denke, in Der Herr der Ringe, Kap. II/4, S. 485 (II-89), wird deutlich, daß es es für die Ents in der "Geschichte" [gemeint ist die Geschichte Mittelerdes - GK] keine Wiedervereinigung geben wird - daß aber die Ents und ihre Frauen, weil sie vernünftige Geschöpfe sind, ein "irdisches Paradies" bis zum Ende der Welt finden würden: und darüber hinaus konnte die Weisheit der Elben oder Ents nicht sehen. Allerdings teilten sie vielleicht Aragorns Hoffnung: "Wir sind nicht für immer an die Kreise der Welt gebunden, und jenseits von ihnen ist mehr als nur Erinnerung." (Der Herr der Ringe, Anhang A, S. 1075 [III-359 und Anh.48])Obwohl die obigen Bemerkungen nicht besonders hoffnungsvoll klingen, so verbleibt dennoch das ungelöste Rätsel in der Unterhaltung zwischen Sam Gamdschie und Timm Sandigmann im Grünen Drachen. Viele haben darin einen möglichen Hinweis auf ein Überleben der Entfrauen gesehen: "Wohl wahr", meinte Sam und stimmte in das Gelächter ein. "Aber was ist mit diesen Baum-Männern, diesen Riesen, wie man sie nennen könnte? Man sagt, einer, der größer war als ein Baum, sei vor nicht langer Zeit oben jenseits der Nordmoore gesehen worden."Nun stammt dieses Gespräch aus einer frühen Phase der Entstehungsgeschichte, als Der Herr der Ringe immer noch als eine Kindergeschichte geplant war (siehe auch LessFAQ, Tolkien, 1). Wenn man sie zuerst liest, paßt sie sehr gut in das das "Kinder- und Märchengeschichten"-Ambiente der ersten Kapitel; sobald man allerdings die Ents kennengelernt hat, ist es unmöglich, beim Lesen dieses Gespräches nicht an sie zu denken. Dieser Eindruck wird durch einige Worte Baumbarts noch verstärkt: Immer wieder ließ er sich das Auenland und seine Landschaft beschreiben. An diesem Punkt sagte er etwas Merkwürdiges. "Ihr seht niemals irgendwelche, hm, irgendwelche Ents dort in der Gegend, oder?" fragte er. "Na ja, nicht Ents, Entfrauen sollte ich sagen."Zusammen betrachtet machen diese beiden Gespräche die Vorstellung, daß Halfast wirklich eine Entfrau gesehen hat, zumindest plausibel. So weit man weiß, diskutierte Tolkien allerdings nie diese Möglichkeit. Somit besteht viel Freiraum zum Spekulieren. (Natürlich kann ein Wesen, das als "so groß wie eine Ulme" beschrieben wird, unmöglich ein Ent sein; aber das beweist nichts. Es könnte nämlich genausogut bedeuten, daß die ganze Geschichte von einem phantasievollen Hobbit erfunden wurde, aber es kann gleichermaßen sein, daß ein fünf Meter hoher Ent einem Hobbit als baumgroß erscheint, und daß die Geschichte beim Erzählen nochmals übertrieben wurde) Auch die Analyse der Geschichte dieses Textes hilft nicht, die Frage zu entscheiden. Tolkien selbst erwähnte in einer Diskussion seiner Arbeitsmethoden, daß das Abenteuer mit Baumbart gänzlich ungeplant war, bis die Geschichte jene Stelle erreichte: Ich habe längst aufgehört, zu erfinden ... Ich warte, bis mir scheint, ich wüßte, was wirklich geschehen ist. Oder bis es sich von selbst schreibt. So wußte ich zwar schon seit Jahren, daß Frodo ein gutes Stück abwärts am Großen Strom in ein Baum-Abenteuer hineinlaufen würde, kann mich aber nicht erinnern, die Ents je erfunden zu haben. Ich kam schließlich an die Stelle und schrieb das Baumbart-Kapitel, ohne daß ich mich an irgendeine Vorüberlegung erinnern könnte; grad so, wie es jetzt ist. Und dann sah ich, daß es natürlich gar nicht Frodo passiert ist.Die Rohfassungen in der History of Middle-earth bestätigen, daß Sams Gespräch mit Timm lang vor dem Auftreten der Ents geschrieben worden waren (Return of the Shadow, 253f; The Treason of Isengard, 411-414). Daher konnte Tolkien nicht an die Ents gedacht haben, als er diese Episode schrieb, und es war anfangs wohl ein willkürliches, eher phantastisches Element. Andererseits schrieb er über Tom Bombadil (siehe auch Frage FAQ, Verschiedenes, 1): "Ich hätte ihn jedoch nicht dringelassen, wenn er nicht irgendeine Funktion hätte" (Briefe, S. 236 [#144]). Der Schluß liegt auf der Hand: Alles in den ersten Kapiteln, was bis zur Fertigstellung stehengelassen wurde, hatte seinen tieferen Sinn. Als er sich entschied, das Gespräch zwischen Sam und Timm beizubehalten, hatte er wohl gewußt, was es dem Leser suggerieren würde. Doch wie das mit den düstereren Ansichten, die er in den Briefen zum Ausdruck brachte, verträgt, ist nicht klar (außer, er hätte seine Meinung später geändert). Das könnte ein Fall sein, in dem Tolkiens Gefühle in Konflikt mit seinen Gedanken traten. T.A. Shippey bemerkte, daß er "weichherzig in kleineren Dingen" (The Road to Middle-earth, p. 173) wäre. Daher entkommt das Pony Lutz, Schattenfell darf mit Gandalf in den Westen, in den späteren Erzählungen zeigt Isildur größere Skrupel, den Einen Ring zu benützen, als aus dem "Rat von Elrond" hervorgeht (Nachrichten aus Mittelerde, Teil 3, I, S. 362), und es wird sogar ein Weg gefunden, wie sich Galadriel von jeglicher Schuld an den Taten Feanors reinigen kann (Nachrichten aus Mittelerde, Teil 2, IV, S. 308). Es kann wohl sein, daß Tolkien als Liebhaber von Bäumen wenigstens die Hoffnung bewahren wollte, daß die Ents und Entfrauen einander finden könnten und daß ihre Rasse fortbestehen könnte. Doch der unangenehme, von seiner eigenen "Logik der Geschichte" erzwungene Schluß erwies sich als unausweichlich.
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